Entladung

Seit einigen Monaten schreibe ich an meinem dritten Roman. Arbeitstitel “Entladung”.

Der Stoff: ein bestialisches Femizid, verübt in einem Dorf im abgehängtesten Teil Brandenburgs. Ich habe lange recherchiert und noch länger nach der passenden Form gesucht: einer Art zu erzählen, die den Text lesbar hält, aber das Unerträgliche der Tat und der  gesellschaftlichen Umstände, unter denen sie zustande kommt, durch jede Zeile schimmern lässt. Immerhin hat mich die Sache so beklommen gestimmt, dass ich sie in eine nahe Zukunft verlegen, ihr einen Hauch von „vielleicht doch nicht“ lassen musste, um nicht davon überwältigt zu werden.

Unter den zahllosen Versuchen und Textfetzchen, die einer ersten Fassung von mittlerweile 240 Seiten Umfang vorausgingen, findet sich ein Fragment, das mich heute morgen “angefallen” hat, als ich die Wahlergebnisse las. 

Es ist durchaus nicht so, dass ich anfangs geplant habe, eine  Fortsetzung von “Unterdeutschland” zu schreiben. Aber ungefragt drängen sich  Figuren wie Enrico Kodde (Abt. 1, S. 46) in meine Arbeit und erobern den  Zeitgeist, unter dem die beklemmende Metzelei unter Eheleuten stattfand,  über die ich – mehr als Symptom, denn als Tatsachenbericht – erzählen will. 

” 9. Januar 2026. Montagmorgen, 7.10 Uhr. Frühappell im Kanzleramt. Zum Erstaunen der versammelten Presse verhängt Enrico Kodde eine zeitlich unbegrenzte Ausgangssperre. Der Vorgang hat sich durch nichts angekündigt. Alle Medien sind rechtzeitig zuvor durch ein empfindlich strafbewehrtes Verbot eigenmächtiger Berichterstattung erfolgreich gleichgeschaltet worden.

Der kahlköpfige Kodde, Vorsitzender der Bewegung des geistigen Aufbruchs Vision Germania – die wahre Alternative ist der erste Bundeskanzler, der sich der Öffentlichkeit stets mit einer verspiegelten Rundumsonnenbrille präsentiert. Er ist auch der erste Bundeskanzler, dem 51,8% der Bürger ihr Vertrauen schenken. Ganz am Rande der Republik soll es Gemeinden geben, in denen die VG sogar 99,3 % erreicht hat, wie einst die SED in seligen Zeiten vor der Wende. Für diese Zonen erübrigt sich jede Analyse zu Wählerwanderungen. Die tragende Mehrheit im Arbeiter- und Bauernstaat sind exakt die gleichen Leute, die heute die neue Nationalhymne singen: „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“. Natürlich in der Version von Heino. Erklärt sich so die Brille des Kanzlers?
Mit Deutschland ist die die BRD AG gemeint. Sie havarierte im Oktober 2025. Nach einer Übertragung der Staatsschulden auf die Bad State S.a.r.L (BaSta) in Luxemburg hat sie vorzeitig den Verwaltungsdienst eingestellt.

Die Rückeroberung der sittlich verkommenen Großstädte hat begonnen. Antipluralistische Kampfgruppen, der starke Arm der Aufbruchsbewegung, rekrutiert alle verfügbaren feinen Kerle aus den kerngesunden Marschen Brandenburgs. Sie marschieren in der Vorweihnachtszeit sternförmig in die Metropolen ein und demolieren unter Gejohle der VG-Wähler die Versammlungsstätten der kümmerlichen Reste der libertären Kultur. Die ApluKas markieren die Trümmer der Läden mit ihrer Hausparole „divers=pervers“ und schliessen das Zerstörungswerk stets mit einem kollektiven „Schiff heil!“ ab: in Reihe urinierende Glatzen, deren strammer Strahl in Salutwinkel zackig aus den Hosen schiesst. Das Mediengesindel klebt den marodierenden Meuten an den Fersen auf der Suche nach dem immergleichen Titelseitenmotiv. Im Blitzlicht der Reporter glitzert die Seiche golden.

Die ApluKas schützen dann zur allgemeinen Beruhigung die freie Wahl am 23. Dezember 2025. Sie kontrollieren vor Einwurf die Wahlscheine: korrekt ausgefüllt – in die Urne. Fehlerhaft angekreuzt = ungültig.
Geschichte wird gemacht. Ansonsten herrscht eisige Ruhe. Der Alltag jenseits des Bereinigungsgeschehens verläuft unauffällig, so als befänden wir uns mitten in der Ära Kohl. Die Saat geht auf. Wirecard und Erdwärmeheizung tragen Früchte. Die Leute nehmen ihr Geld vom Konto und reinvestieren es in sündhaft teure E-Mobilität. Kurzatmige Fettbrocken jagen auf Unterstützungsstufe 3 durch die Städte und lehren die Fußgänger das Fürchten.”

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