Depublikation

Gestern habe ich einen Text von Michael Andrick über Faktenchecker veröffentlicht und wollte darin ursprünglich der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass jetzt wieder Texte wie “Das Zulassungsdesaster: Lobbyarbeit und Rechtsbruch im Fall der mRNA-Präparate“ eines Autorenkollektivs von sechs Juristen erscheinen können.

Ich hatte mich schließlich aus Gründen der Konsistenz dagegen entschieden und plante, diese Woche noch einen eigenen Beitrag über die Meinung des Autorenkollektivs zu verfassen.
Da hatte die Berliner Zeitung den Beitrag bereits wieder gelöscht.

Grund:
Die Redaktion wurde nach der Veröffentlichung mit starken Argumenten konfrontiert, die die Richtigkeit des Textes in Frage stellen.
Auf dieser Grundlage hat sich die Chefredaktion der Berliner Zeitung dazu entschlossen, den Text zu depublizieren und die Vorwürfe zu prüfen.

Diese zwei knappen Sätze des Chefredakteurs Tomasz Kurianowicz lassen auf schlimme Stunden schließen, die ihrer Formulierung voraus gingen. Jedes Wort ist reiflich abgewogen und meint nicht, was es zu sagen scheint.

Zunächst “Depublikation”– allein dieses verräterische Wort wäre einen neuen Eintrag in unserem “Wörterbuch des Unrates” wert: es tönt wie “Veröffentlichung”, aber das kleine anlautende “De-” ist ein vermeintlich geschickter Weg um den Zensurvorwurf herum.

Auch “starke Argumente” sind ein feiner Tropus: durch ihre ausgewiesene Stärke graben sie dem Argument, über das man ja sprechen könnte, so arg das Wasser ab, dass gleich kurzerhand “depubliziert” werden muss. Starke Argumente sind nicht verhandelbar. Sie kennen nur einen Modus der Reaktion: Löschung. Wenn man mit starken Argumenten “konfrontiert” ist (statt dass sie “vorgebracht” = in die Diskussion geworfen wurden), hat man bei der Veröffentlichung, der sie nun entgegen stehen, offenbar das Entscheidende, das die Veröffentlichung ausschließt, vorher übersehen. Wenn das Argument so stark ist, dass man es nicht benennen darf oder mag, wandelt es sich, wie der Chefredakteur selber bekennt im letzten Satz, zum Vorwurf. Vom (lat.) argumentum = Darlegung, Gehalt, Beweismittel ist nichts mehr übrig als eine bloße Anschuldigung.

Der Wortlaut der „starken Argumente” ist (bislang noch) ebensowenig öffentlich bekannt, wie derjenige, der sie vorgebracht hat. Erst recht wird nicht gesagt, was genau denn „Richtigkeit“ bedeutet – angesichts einer Meinung. Um “sachlich korrekt” geht es bei der Wahl des Wortes “Richtigkeit” jedenfalls sicher nicht, sonst würde da Fehler, Irrtum oder Mißinformation stehen. Die “Richtigkeit” eines Textes aber ist moralischer oder politischer Natur.

Auf einer Seite im Netz las ich, einer der Autoren habe gesagt, ein ungenannt bleiben wollender Experte habe sich geäußert und die Redaktion zu diesem Schritt gebracht.

Wer sind die Autoren, die hier von dem Gegenargument eines Unbekannten zum Schweigen gebracht werden?

Es sind:
1) der Inhaber des Lehrstuhl für Öffentliches Recht unter Berücksichtigung europäischer und internationaler Bezüge Prof. Dr. Gerd Morgenthaler, den Liebhaber von Michel Houellebecq kennen, weil Morgenthaler eine der Reden zur Verleihung des Oswald Spengler Preises an Houellebecq gehalten hat.
Man sollte verfolgen, wie sich der Fall auf die Freiheit seiner und der Lehre der anderen öffentlich bestallten Ko-Autoren des “Zulassungsdesasters“ auswirkt.

2) René M. Kieselmann Fachanwalt für EU-Vergaberecht bei der Kanzlei SKW

3) Amrei Müller, Assistant Professor (Ad Astra Fellow) at UCD Sutherland School of Law University College Dublin, School of Law

4) Prof. Dr. jur. Günter Reiner, Professor für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Steuerrecht an der Helmut Schmidt Universität der Bundeswehr in Hamburg (sic! Die gibts!) mit Forschungsschwerpunkt Finanz-, Kapitalmarkt-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht und Initiator der Aktion „Kritischer Geist in der Krise“.

5) Dr. Brigitte Röhrig, Rechtsanwältin mit Spezialisierung auf Arzneimittelrecht, Pharmarecht, Lebensmittelrecht, Medizinprodukterecht, Kosmetikrecht
Röhrig ist Betreiberin eines Telegram-Kanals und wehrt sich heftig gegen die Impfempfehlung der STIKO für Babys ab 6 Monaten.

6) Prof. Dr. Martin Schwab, Inhaber des Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Verfahrens- und Unternehmensrecht, Autor der 182-seitigen Abhandlung “Meinungsfreiheit und wissenschaftlicher Diskurs in der Corona-Krise“ zum Bericht der Untersuchungskommission im Fall Wolfgang Wodarg in Sachen Transparency International Deutschland. Schwab ist für Die Basis politisch engagiert und war einmal in der ÖDP (siehe unser Bericht über Herbert Gruhl)

Nun gut, eine illustre Truppe, über deren Binnenverhältnis ich nichts weiß: wie sind sie zusammen gekommen? Wählen sie alle die gleiche Partei? Keine Ahnung.
Aber ist die Beantwortung dieser Frage wesentlich für die Bewertung des depublizierten Textes? Wohl kaum.
Wichtig ist doch eher die Stichhaltigkeit der vorgebrachten Analysen.

Die Depublikation öffnet nun Demokratie-schädlichen Spekulationen Tür und Tor: Man kann sich gut vorstellen, dass bei der Depublikation potente wirtschaftliche Interessen im Spiel sind.
Man kann sich gut vorstellen, dass potente politische Kreise auf die Chefredaktion der Berliner Zeitung eingewirkt haben, heisst es doch im depublizierten Text:
…zuvorderst (ist) notwendig, die rechtliche Festlegung zurückzunehmen, genbasierte „Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten“ seien keine Gentherapeutika. Dies muss die Bundesregierung direkt bei der Europäischen Kommission betreiben. Darüber hinaus sollte das Vorgehen der EMA und der EU-Kommission sowie weiterer Beteiligter in der Corona-Krise von einem Untersuchungsausschuss wegen dringenden Verdachts auf Rechtsbruch durchleuchtet werden.

Alles Mögliche schwirrt nun leider durch den Raum und macht den Text noch viel interessanter, selbst wenn er nachweislich Fehler enthielte. Denn man versteht nicht, warum zu Gebote stehende Mittel der Zeitung nicht ausgeschöpft werden: Warum keine Gegendarstellung des „Experten“? Warum nicht offen debattieren?
Der Text war ja explizit als Gastbeitrag ausgewiesen. Also sicher auch eingeschränkte Haftung für die Zeitung…

Dies alles zeigt letztlich sehr deutlich, mit welchen Mitteln Meinungen, die vom Kanon (Hier hat Ruhe zu herrschen!) abweichen, bekämpft werden. Genau dieser Fall ist beispielhaft für das, was Michael Andrick mit “offen repressive Diskursarchitektur“ meinte.

Schade, dass ausgerechnet die Berliner Zeitung, die als eine der ganz wenigen immer wieder in den letzten Monaten deutlich abweichende Meinung und unterbliebene Nachrichten publizierte, dieses Negativbeispiel gibt – hoffentlich kein Signal für einen Wandel.

Für Leser, die das Original verpasst haben, hier die Beruhigung: keine Sorge – der Text ist bei archive.org noch nachzulesen.

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