Die Entladung

Entsprechend der Ankündigung von Macron, ihm unliebsame Teile der Bevölkerung “vollzukacken, bis es ihnen die Scheiße zum Hals steht”, setzt sich nun eine Spirale aus Polizeigewalt und Verwüstung in Gang, deren Ende nicht absehbar ist. Ein Akteur berichtet aus der Mitte des pariser Krieges gegen die eigene Bevölkerung.

Vor 14 Tagen bin ich in die Bibliothek gegangen und habe mir „Arena“ von Négar Djavadi ausgeliehen. Um es kurz zu machen: es ist die perfekteste Darstellung der Gewaltspirale in den Banlieues seit Mathieu Kassovitz´ Film „Hass“ – ein ganz großer Roman, mit dem Frankreich endlich an die sozialkritischen Texte von Zola und Hugo anschließt. Die Sprache ist brilliant, der Text ist genial komponiert und leider in jedem, noch so unerträglichen Detail nachvollziehbar.

Während ich „Arena“ las, musste ich unentwegt an eine unschöne verbale Fäkalie denken, die der Präsident Frankreichs im Januar 2022 frohgemut herausgefurzt hatte, ohne dass sich nennenswerte Entrüstung zeigte, geschweige denn juristische Folgen.

Er sagte nicht: „Wir werden die Umgeimpften solange nerven, bis sie einlenken“ – das hätten die westlichen Medien gern so übersetzt. Vielmehr sagte er tatsächlich: „Wir werden die Umgeimpften bis zum Anschlag dichtkacken. Darauf bin ich echt heiß.“
(« emmerder […] jusqu’au bout », «Les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder. »)
Der Satz ist mir so präsent, weil an der Bundestrasse vor dem Dorf in Frankreich, in dem ich viel Zeit verbringe, seitdem täglich ein Demonstrant mit gelber Weste und Macron-Maske steht. Er hält ein Schild in den Verkehr: „Macron kackt auf euch.“

Es ist durch die Art, wie Macron regiert, im Land eine apokalyptische Stimmung entstanden. Er hat ganz zweifelsfrei jedes Sentiment aus dem Verhältnis Bürger-Regierung entfernt und schleudert seine Verachtung frei heraus. Macron hat diese Eskalation zu verantworten. Es ist entsetzlich, aber es wundert mich wenig, als ich diese Woche das Bekenntnis von Heitor O’Dwyer de Macedo (Avatar) lese, warum er eine Pariser Mediathek niedergebrannt habe.

Ich zitiere:
“Man sagt, dass es ein selbstzerstörerischer Akt war, die Mediathek niederzubrennen. Man sagt, dass ich ein Idiot bin. Man sagt, ich sei für den Kapitalismus, weil ich die Schaufenster von NIKE eingeschlagen und ein Dutzend Paar Schuhe mitgenommen habe.

Ich bin dumm, weil ich die Mediathek abbrenne, aber wenn der Innenminister, der sicherlich in Mediatheken und Bibliotheken ging – als Reaktion auf die Empörung der nationalen Jugend, der Armen, der Araber, der Schwarzen und der Großzügigen, Empörung über die Polizei, die wieder ein Kind getötet hat – nichts anderes zu sagen hat, als dass er 45.000 Polizisten auf die Straße bringen wird, mit Panzern, mit schweren Waffen und Scharfschützen – er, der in Mediatheken und Bibliotheken gegangen ist, wozu soll es dann gut sein, in die Mediathek zu gehen?

Wenn der Justizminister, der sicherlich auch Mediatheken und Bibliotheken besucht, angesichts der Entladung dieser allgemeinen Verzweiflung nur auf die Idee kommt, die Eltern der Jugendlichen in den Knast zu stecken, wozu ist es dann gut, in die Mediathek zu gehen?

Wenn der Präsident der Republik, der in Mediatheken, Bibliotheken, gute Mittelschulen, Gymnasien und Universitäten gegangen ist, und der sicherlich mehrere Paar NIKEs besitzt, ohne ein Schaufenster hat zerstören zu müssen, um sie zu erhalten; wenn also derjenige, der diese beiden Minister ausgewählt hat und sie im Amt belässt, wenn dieser Präsident, der angesichts der Wut der Armen wegen der Erhöhung des Benzinpreises keine andere Antwort gefunden hat, als die unbewaffneten Armen mit schweren Waffen zu verletzen, zu verstümmeln und zu töten, wenn derselbe mit seiner Tim-und-Struppi-Frisur angesichts des Schmerzes und der Wut eines Teils der Jugendlichen und der Bürger wegen des Mordes an einem Kind behauptet, die Rebellion sei die Folge von Videogames und der Aussage eines Fußballers, der aus den Vororten stammt und daher versteht, was passiert, was nützt es also, in die Mediathek zu gehen, wenn man trotz der vielen Besuche dort solchen Bockmist verzapft?

Ja, die Mediathek, wie auch die Mittelschulen und Gymnasien, sind Orte, an denen man Dinge lernen, sich Wissen aneignen und das Wissen lieben lernen kann. Aber die Regierung hasst das Denken. Sie ließ in London einen Verlags-Korrespondenten unter dem Vorwand verhaften, er sei bei einer Demonstration gegen das neue Gesetz zum Rentenalter dabei gewesen. Die Regierung behauptet auch, die Umweltbewegung radikalisiere sich wegen der Lektüre eines Buches und nicht, weil das Leben auf diesem Planeten zerstört wird. Wozu also lernen?

Die republikanische Schule als sozialer Fahrstuhl? Das stimmt schon lange nicht mehr. Ich denke an meinen Vater. Er ging auf eine beschissene Schule in einem beschissenen Vorort, in dem wir immer noch leben. Diese Geschichte ereignete sich vor etwa 40 Jahren. Der damalige Kultusminister schlug vor, dass Künstler in die Schulen der Ghetto-Viertel der armen, arabischen und schwarzen Menschen gehen sollten. Es gab eine Schriftstellerin, die kam. Leider war sie eine Idiotin. Sie ging in die Klasse, setzte sich hin und sagte: Ich schreibe, um dem Tod zu begegnen. Da holte Mamadou, ein Freund meines Papas, er war ein ziemlicher Hecht, ein Messer heraus und sagte: Wenn Sie wollen, können wir das sofort regeln. Die Frau schrie um Hilfe, schrie und schrie. Mamadou wurde rausgeworfen und die Frau kam nie wieder zurück. Mamadou kam immer zu uns nach Hause. Er liebte es, wenn mein Vater Geschichten erzählte. Er ging nie wieder zur Schule. Er war im Drogenhandel. Das wurde uns an dem Tag klar, als er mit einem Mercedes auftauchte. Papa mochte ihn sehr, wir Kinder auch. Bei jedem Besuch brachte er uns Geschenke mit. Er wurde getötet. Entweder von den Drogenbossen oder von den Bullen. Wir haben es nie erfahren. Mein Vater meinte immer, dass Mamadous Leben vielleicht anders verlaufen wäre, wenn er nicht von der Schule geflogen wäre.

Denn nach der hysterischen Frau, die sterben wollte, kam eine andere Schriftstellerin. Sie war mutig genug, nach dem, was passiert war, zu kommen. An dem Tag, an dem sie lächelnd ankam, sagte sie hallo und bot an, eine Geschichte zu erzählen. Sie erzählte eine Stunde lang und, wie mein Vater sagt: man konnte eine Fliege fliegen hören. Am Ende ihrer Geschichte sagte sie, dass sie von einem Mann namens Franz Kafka geschrieben worden war, und versprach, zu erzählen, warum sie ihn ausgewählt hatte, aber vorher würde sie gerne von den Schülern hören, was sie dachten, wenn das möglich wäre. Mein Vater, wenn er sich an diesen Moment erinnerte – er hat nie aufgehört, darüber zu sprechen und ich glaube, es hat sein Leben verändert – erzählte immer: Sie lächelte, als sie diesen Vorschlag machte, sie lächelte oft, es war keine Höflichkeit, es war Respekt, ein tiefer Respekt für uns alle, wir hatten das Gefühl, wie Prinzen behandelt zu werden. Und alle haben geredet, es war ein Fest des Redens. Und sie sagte, dass sie sehr gerührt sei und dass sie sicher sei, dass wir gemeinsam schöne Dinge tun würden. Und am Ende des Jahres hat sie die Texte, die wir geschrieben hatten, in einem kleinen Buch zusammengefasst. Und sie stellte uns Faulkner, Malraux und Camus vor. Sie sagte, dass jeder schreiben kann, dass nicht jeder ein Schriftsteller ist, aber dass jeder schreiben kann. Und sie hat uns das bewiesen.

Mein Vater hat den ganzen Kafka gelesen, Faulkner und so weiter und so fort. Ich habe meine ganze Kindheit lang gehört, was sie geschrieben haben. Es waren diese Geschichten, die er Mamadou erzählte.

Eines Tages, als er von der Arbeit nach Hause kam, wurde er von Polizisten kontrolliert, die sehr beleidigend waren. Mein Vater lehnte eine Leibesvisitation mit der Begründung ab, dass er seine Rechte kenne, und verlangte, dass man ihn zur Polizeistation bringt. Die Polizisten kicherten: er kennt seine Rechte, der Nigger, und schlugen ihn zusammen. Er konnte nie wieder laufen, mein Vater. Aber für meinen Vater gab es keine Demonstrationen. Es war und blieb Routine. Eine Routine der Angst und des Leidens. Angst, Zielscheibe des Hasses zu werden. Leid der Ohnmacht, der Demütigung. Im Fall des Mordes am jungen Nahel wäre eine Anzeige ohne das Video und angesichts der falschen Berichte der Polizei völlig in die Geige gepisst gewesen.

Ich bin meinen Kumpels gefolgt, die die Türen und Fenster eines Krankenhauses zerschlagen haben. Der Gesundheitsminister hat gesagt, dass das ein Skandal sei. Der Minister musste in Mediatheken gehen, Universität und so weiter und so fort, vielleicht hat er sogar Kafka gelesen, aber Krankenhausbetten streichen, erschöpfte, weil ständig unterbesetzte Krankenhausteams hinnehmen, aufgrund von Personalmangel und miserablen Mitteln und Gehältern verwaiste Notaufnahmen und Psychiatrien: wie soll man das nennen?
Und nicht zu vergessen, am Anfang von Covid war die Regierungssprecherin sehr dumm, anstatt das Volk wie einen Erwachsenen zu behandeln, wie es Merkel in Deutschland getan hat, und zu berichten, dass der Vorrat an Masken nicht erneuert worden war, behauptete sie, dass das Tragen einer Maske nicht notwendig sei, und dass es außerdem sehr kompliziert sei, eine Maske anzulegen. Und da sie, die Sprecherin, Diplome hatte, war sie davon überzeugt, dass jeder die kriminellen Lügen einer Dumpfbacke schlucken würde. Meine Kumpels hatten keinen Vater, der Kafka und den Rest gelesen hat, sie lesen keine Zeitung, sie wissen nicht, dass es die Dummheit dieser Verbrecherbande ist, die das Land in der Hand hat, die beschlossen hat, den Öffentlichen Dienst zu zerstören. Wenn sie ins Krankenhaus kommen, weil sie mit dem Fahrrad gestürzt sind oder etwas Schlimmeres, und fünf, sechs Stunden auf einen Arzt warten, ist für sie, die zwischen 13 und 17 Jahre alt sind, dieser beschissene Empfang die Schuld des Krankenhauses und nicht die der Regierung.

Willst du, dass ich weiterrede? Aber deine Zeitung kann nicht alles fassen, was ich dir zu erzählen hätte, dazu bräuchte es eine Vielzahl an Büchern in Dünndruckpapier … Wenn du willst, können wir in die Mediathek zurückgehen …”.

2 Antworten auf „Die Entladung“

  1. Sehr geehrter Herr Arndt,

    ich verfolge Ihren Newsletter seit längerer Zeit und danke dafür.
    Dieser Beitrag (die Entladung) ist eine wichtige , ich möchte sagen historische, Dokumentation sozialer, ökonomischer und auch psychologischer Dimensionen der bestehenden Ausbeutung und Unterdrückung vieler Menschen, eine Leidensgeschichte.
    Mir ist sofort das Buch von Édouard Louis “Wer hat meinen Vater umgebracht” (2018) in den Sinn gekommen. Am Ende des Buches schreibt er: “Hollande, Valls, El Khomri, Hirsch, Sarkozy, Marcron, Bertrand, Chirac. Für Deine Leidensgeschichte gibt es Namen. Deine Lebensgeschichte ist die Geschichte dieser Figuren, die aufeinandergefolgt sind, um dich fertigzumachen. Die Geschichte deines Körpers ist die Geschichte dieser Namen, die aufeinandergefolgt sind, um dich zu zerstören. Die Geschichte deines Körpers ist die Anklage der politischen Geschichte.” (Seite 75)

    Herzliche Grüße,
    Conny Stahmer-Weinandy

  2. In deinem Beitrag deutest Du eine Aussage von Emmanuel Macron anders als der deutsche Mainstream. Der französische Präsident hatte 2022 verkündet, er wolle die Nicht-mRNA-Gespritzten “emmerder” “jusqu’au bout”.
    Das Verb “emmerder” geht zwar auf das Substantiv merde = Scheiße zurück, wird aber nach meiner Erinnerung im Alltag im Sinne von “stören”, “nerven”, “ärgern”, “anöden” gebraucht. “Il m’emmerde” kann eine Frau von einem Mann sagen, der ihr auf die Nerven geht.”Ah, c’qu’on s’emmerde ici” ist Refrain-Zeile der chanson pailliarde “Dans un amphithéatre” im Sinne von “Wir langweilen uns in diesem Hörsaal”. Ähnliches gilt für “se démerder” – in etwa “sich durchwursteln, zurechtkommen mit”.
    Aus https://www.youtube.com/watch?v=BVF9BiTaOkQ
    kann man schließen, dass das französische Publikum die Ausdrucksweise des Präsidenten für unangemessen “familier” gehalten hat, aber eher nicht für vulgär oder für wörtlich gemeinte Fäkalsprache. Wohl aber hat es inhaltlich Anstoß genommen: an der Ankündigung präsidialer Schikane seiner Bürger.
    Langenscheidts Handwörterbuch von 2001 gibt lediglich unter 2. für die Wendung “je t’emmerde!” und “je l’emmerde” – “am Arsch lecken” an, ansonsten nur fäkalfreie metaphorische Bedeutungen. Dito Le Petit Robert 1 von 1988.
    Könnte es sein, dass Du vorschnell interpretiert hast? Parallelen gibt es ja auch im Deuschen: Vom Scheißen abgeleitet sind mindestens folgende Wörter: verscheißern, anscheißen, zuscheißen, beschissen, verschissen, bescheißen. Keines davon meint den Fäkalvorgang im wörtlichen Sinne.
    Macron ist nichts destotrotz ein Klugscheißer und seine Politik große Scheiße.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert