In den zurückliegenden Jahren wurden immer mehr Mitbürger kriminalisiert und als Staatsfeinde gebrandmarkt, deren Überwachung durch die einschlägigen Dienste es bedürfe. Wie viele sind es? Nur ein Promille der Gesellschaft? Oder gar, wie andere glauben belegen zu können: 20%? 16 Millionen Bundesbürger im Widerstand? Zeichnet sich hier eine Wirklichkeitsspaltung ab, bei der die subjektiven Orientierungen der Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen gefährlich auseinander driften? Birgt das eine Hoffnung?
Im Sinne von (Wilhelm) Reich wäre es (…) falsch, Kapitalisten, Eliten oder gar einzelnen Führerinnen und Führern die alleinige Schuld dafür zu geben, dass sich dieses Interesse durchsetzt: Die anerzogene Zerstörungswut der »Massen«, also unsere Zerstörungswut, verlangt ebenfalls unbewusst nach einem System, das dieser Destruktivität Ventile verschafft. Auch wenn aus Politik,Medien und Wirtschaft machtvolle Vorgaben kommen, sind es doch vor allem wir, die als Eltern, Erzieher und Betreuer das ausführen, befürworten oder zulassen, was Sozialisierung genannt wird – und was wiederum in unseren Kindern destruktive Anteile erzeugt.
Andreas Peglau, Rechtsruck (2017)
Es kommt zu einer unmerklichen, aber folgenreichen Wirklichkeitsspaltung: Die subjektiven Orientierungen des Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen driften auseinander. Am Ende steht eine gebrochene Gesellschaftsordnung, in der … das offizielle Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig erscheint – die Wahlen werden nicht gefälscht, die Korruption ist nicht endemisch, die Machtteilung wird respektiert, Recht wird gesprochen. Aber im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es, mit Ausbrüchen ist zu rechnen, in der Abwendung vom System entstehen politische Schwarzmarktphantasien – das Einfallstor für Populisten jeder Art.
Oskar Negt im Spiegel-Interview 2010
Hetzjagd
Zunächst ein Wort – nicht in „eigener Sache“, sondern in „unser aller“: zugleich eine Verneigung vor unseren Lesern.
Als wir am 23. April 2020 den Blog begonnen haben mit Inhalten zu füllen, ersetzte er eine Email-Info-Liste, deren Betrieb zunehmend unangenehm geworden war, weil sich der Stil der Auseinandersetzung zwischen uns, den Versendern, und unseren Freunden, den Empfängern, in kürzester Zeit herb verändert hatte.
Es war an der Zeit, uns persönlich aus der Schusslinie zu nehmen, spätestens als diejenigen, die wir für unsere Freunde gehalten hatten, anfingen, uns für unsere Fragen und Gedanken zum Pandemie-Management als Massenmörder zu beschimpfen, oder uns zumindest für solche Leute zu halten, denen zugunsten ihres „wohlfeilen Anti-Etatismus“ der Tod eines Großteils der Bevölkerung gleichgültig sei.
Die Email-Liste hatte selten mehr als 20 Empfänger. Das war unser engster Kreis, dem wir angeboten hatten, über Politik und Wirtschaft zu sprechen. Heute, drei Jahre danach, hat sich dieser Kreis auf insgesamt 100.000 Leser vergrößert (mit insgesamt 400.000 Seitenzugriffen) – die magische Linie der sechstelligen Zahl wird noch in dieser Woche überschritten. Damit hatten wir nicht gerechnet. Doch wir sind natürlich hoch erfreut.
Leider hat sich in ebenso unvorhersehbarem Maß der schwere Vorwurf in unserer Gesellschaft breit gemacht. Die Kriminalisierung schreitet voran. Ebenso wie die Spaltung.
Wer separiert sich da von wem?
Kriminalisierung
In den zurückliegenden Jahren wurden Mitbürger kriminalisiert und als Staatsfeinde gebrandmarkt, deren Überwachung durch die einschlägigen Dienste es bedürfe.
Diese Mitbürger wurden als potentielle Gewalttäter oder gewaltbereite Gruppierungen kategorisiert, gegen die präventiv Gesetzesverschärfungen mühelos – scheinbar im allgemeinen Einvernehmen – durchgesetzt werden konnten, deren Durchsetzung meist gerade nur noch haarscharf im rechtsstaatlich vorgesehenen Procedere stattfand, nicht selten, über demokratische Verfahren sich hinwegsetzend, deutlich grundrechtseinschränkend.
Der Zorn der Macht richtet sich gegen:
– Mieter, die offensiv für den Verbleib in ihrer Mietwohnung oder ihrem gemieteten Ladengeschäft kämpfen, insbesondere wenn sie nicht davon absehen, Unrecht, Spekulation und gesetzeswidrigen Umgang mit Eigentum an ihren Fensterscheiben in Wort und Bild öffentlich zu machen.
– G20-Gegner, die durch ihre Bekleidung und ihre Parolen im landläufigen Sinn beziehungsweise nach populistisch-medialer Ansicht als „Anarchisten“ einzuordnen seien. Echte Anarchisten aber sind rar geworden – solche wie die, die im spanischen Bürgerkrieg unter Beweis stellen konnten, dass sie mühelos in der Lage sind, eine ganze Großstadt – Barcelona – administrativ in den Griff zu bekommen, d.h. erfolgreich zu lenken. Treffender wäre es vielleicht, wenn man die mit dem Begriff bezeichneten G20-Gegner als libertäre Linke oder als Autonome bezeichnen würde – aber das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag! Es steht jedenfalls fest, dass in der offiziellen Diktion kein Begriff abschätziger gemeint ist, als „Anarchist“.
Zurück zum Zorn der Macht. Er richtet sich ähnlich stark wie gegen Anarchisten auch gegen:
– Klimaaktivisten, die zu so radikalen Methoden der Blockierung greifen wie unangemeldete Demonstrationen und zu hemmungslosem Einsatz ihres eigenen Körpers neigen: für unser aller Rettung vor der Klimakatastrophe.
– Mitbürger aller politischer Couleur, die Zweifel an der Richtigkeit der „hygienischen“, mit anderen Worten: zwangsweise verhängten medizinischen Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Pandemie äußern.
– Tierschützer, die sich für die Methode der Tierbefreiung entschieden haben. Diese wurden sogar vor allen anderen noch als Terroristen eingestuft.
– Baumschützer, die sich für die Methode der Baumbesetzung entschieden haben und nicht auf Zuruf der Polizei freiwillig heruntersteigen; ähnlich den anderen Naturschützern gelten sie als besonders gefährlich, wenn sie sich selbst an die Tore von Unternehmen mit fragwürdigen Praktiken anketten.
– Personen, die sich mit performanceartigen Aktionen im öffentlichen Raum gegen die von Wirtschaft und Politik beschlossene Auslöschung von Natur und Kultur wenden und dabei nicht vor dem Einsatz von wasserlöslicher Farbe zurückschrecken.
– Atomenergie-Gegner, in deren Reihen sich Mitglieder aller zuvor erwähnten Fraktionen befinden; unter diesen wurden besonders stark die sogenannten Schotterer kriminalisiert, solche Leute also, die symbolisch durch händisches Freilegen von Eisenbahn-Schienen auf das Sicherheitsrisiko hinweisen wollen, das damit verbunden ist, noch eine Million Jahre lang lebensbedrohlich strahlenden Müll aus der Energieherstellung mit Uran oberirdisch in einer Leichtbauhalle bei Gorleben in Niedersachsen abzulegen, wo schon 350 solcher Behälter in den letzten 50 Jahren hingefahren wurden: einmal quer durch Nordeuropa und nachts oft mitten durch Wohngebiete, wo die Waggons mit dem kochenden Abfall oft stundenlang parken.
– Schürf- und Bauplatz-Besetzer, die sich mit ihrer Besetzungsaktion gegen die am Ort geplanten und staatlich bewilligten Projekte wenden, deren energetische oder ökologische Sinn-Fälligkeit sie anzweifeln, die aber fraglos die verbliebenen Reste der Natur zerstören und seltene Tiere vertreiben.
Sicher fehlen in dieser Liste noch eine ganze Reihe ähnlicher Aktivisten. Aber es sollte klar sein, wie es um die Relation zwischen Aktion (Bürger) und Reaktion (Staat) bestellt ist.
Was alle diese Gruppierungen verbindet, ist die deutliche, nicht durch autoritäres Auftreten des Staates zum Schweigen zu bringende Kritik an Widersprüchen des aktuell herrschenden kapitalistischen Parteien-Systems und ihre durch die Aktion vorgetragene Infragestellung des staatlichen Gewalt-Monopols.
Die Reaktion des Staates auf diese Form der Kritik illustriert eine Neufassung des Selbstverständnisses von Staat. „Staat“ ist nicht die Vertretung aller seiner Bürger, sondern eine übergeordnete, Zwang ausübende und sich Kritik harsch verbittende Herrschaft, die sich allein als Vertretung der – von sich selbst – als staatserhaltend eingestuften Kaste der Apparatschiks und Wirtschaftsakteure begreift.
Was genau bedeutet „kriminell“ in der Sprache dieser Machthaber?
Zunächst einmal ist es ein Sammelbegriff für das Gegensatzpaar von gut und böse:
Auf der guten Seite ist jedermann ehrlich, gesetzestreu, seriös, vertrauenswürdig, zuverlässig.
Kriminell hingegen steht für asozial, beispiellos böse, empörend und frevelhaft. Kriminell bedeutet gem. seinem lateinischen Stammwort crimen „Beschuldigung, Anschuldigung, Vergehen, Verbrechen“ (zit. nach Kluge, Etymologisches Wörterbuch). Es bedeutet, das Tun, das so bezeichnet wird, sei widerrechtlich und sträflich.
Durch Etikettierung, das Anheften einer stigmatisierenden Beschreibung, so wie „aggressiv“, „gewaltbereit“, „grundrechtswidrig“ oder „chaotisch“, die sämtlich zum Bedeutungsfeld von „kriminell“ gehören, findet eine pauschale Schuldzuweisung statt, die eine personenbezogene oder Argument-basierte Wertung ebenso erspart, wie eine Angemessenheitsabwägung oder Kontextualisierung des angeblich „militanten“ Verhaltens: wird „randaliert“, „blockiert“ (oder jüngst: „geklebt“), gilt das Prinzip „mitgefangen mitgegangen“. Eine Debatte über den Gegenstand des Protestes findet dann nicht statt.
Diese Methode der Wertung von Protestformen ist in jüngster Zeit gewaltig ausgeweitet worden durch Framing mithilfe ganzer Gruppen von stets sehr vagen, doch stark tendenziös geprägten Umfeld-Begriffen wie „–Leugner“, „–Verschwörer“, „–Gegner“. Die wesentliche Gemeinsamkeit ist die Verdammung der so Bezeichneten als „deviant“, als abweichend von der gesunden Mitte.
Wenn also „der Rechtsstaat sich nicht auf der Nase herumtanzen“ lässt und Strafverfolgungsbehörden die Bezeichnung „kriminell“ – noch dazu im Zusammenhang mit „Vereinigung“ – anwenden auf formal gewaltfreien Widerstand wie das Festkleben des eigenen Körpers auf der Strasse, so dient der Trick der Pauschalisierung bei der Erfassung bestimmter Einzel-Personen dazu, sie wie einen „Verein“ oder eine „Partei“ (mit Mitgliedsausweis und Statuten) zu behandeln, also den hohen Grad der Organisation bei der Zuwiderhandlung hervorzuheben – und die (gegen unser aller Untergang) Protestierenden nicht als eine spontane Assoziation von Individuen zu sehen, und ihren Protest als organisiertes Verbrechen.
So gelangen wir an den Punkt, dass schon „eine andere Meinung haben“ kriminell ist.
Bitte halten Sie an dieser Stelle mit Lesen kurz inne und ordnen Sie die oben aufgezählten Themen den beiden Seiten zu: Mieten-, Energie-, Gesundheits- und Klimapolitik, Westblock-Beschlüsse zur Osterweiterung, “Global Governance” (Nato, UNO, EU, WEF, WHO) sowie allgemeine Ziele bei der Globalisierung des Kapitals, aktuelle „Politik“ der Fleischversorgung von Milliarden Menschen.
Nun wissen Sie, auf welcher Seite der Gesellschaft Sie stehen.
Spaltung
Es gibt die Theorie, dass alle diese Gruppen und jene Teile der Bevölkerung, die mit den Zielen der mutigeren Leute, der aktionistischen Speerspitzen übereinstimmen, aber entweder berechtigte Angst haben, ihre Körper polizeilicher Gewalt aussetzen, um ihre Ziele publik zu machen, oder schlicht nicht aktiv mitmachen können, zusammen etwa 20 % der Gesamt-Bevölkerung ausmachen. Das wären in Deutschland immerhin 16 Millionen Menschen. Diverse Befragungen scheinen eine Zahl rund um 20% zu bestätigen.
Ich beziehe mich hierbei auf eine Email-Debatte mit dem Psychoanalytiker und Wihelm-Reich-Herausgeber Andreas Peglau. Er schreibt:
„… ich meine, das Corona-Geschehen lässt sich nicht nur auf den negativen Nenner bringen. Ich sehe da ein Deutlich-Werden lange oder schon „ewig“ vorhandener, nun politisch bestärkter, destruktiver psychischer und Sozialstrukturen. Ein Wieder-Aufflammen niemals bewältigter Vergangenheit.
Dass dies nun deutlicher wird, also auch nicht mehr so gut verleugnet werden kann wie bisher, ist in meinen Augen ein Fortschritt.Zum anderen haben sich – für mich aufgrund vorheriger sozialwissenschaftlicher Untersuchungen und meiner an Wilhelm Reich und Erich Fromm geschulten Auffassungen – völlig unerwartet POSITIVE Entwicklungen ergeben.
„Spreu und Weizen“ haben sich in erstaunlicher Klarheit getrennt. Und ich hatte mit weitaus weniger Weizen gerechnet.“
Das Zitat stammt aus einer Antwort auf ein Papier mit 20 Aspekten der gesellschaftlichen Spaltung, das ich im frühen Mai 2023 an diverse Autoren der AKTION versendet hatte in der Hoffnung auf einen anregenden Rücklauf.
Zahlen, die besser dokumentiert sind als die zuvor geschätzten 20%, bietet Peglau in seinem Buch „Rechtsruck“ (S. 94), in dem er versucht, dem kollektiven Charakter näher zu kommen:
»Autoritäre Aggression«, das Nach-unten-treten-Wollen des autoritären Charakters, identifizierten Decker et al. 2016 bei 67,5 % der deutschen Bevölkerung – das sind mehr als
48 Millionen Bürgerinnen und Bürger! Da es 2014 »nur« 52,1 % waren, denen dies zugeschrieben werden musste, also in zwei Jahren mehr als 15 %, also elf Millionen hinzugekommen sind, muss von einem erschreckenden Anstieg gesprochen werden, der zumal im Zuge der Befragungen den bisherigen Höchststand markiert.
Die »autoritäre Unterwürfigkeit«, das Nach-oben-Buckeln, das diesen Typus komplettiert, stieg zwischen 2014 und 2016 ebenfalls deutlich an, von 19,7 auf 23,1 %: mehr als 16,4 Millionen Deutsche. Auch diese Einstellungen ziehen sich, in unterschiedlicher Stärke, durch die Wählergruppen aller Parteien.
Peglau präzisiert dann in der Email an den Autor – sechs Jahre nach Erscheinen des zuvor zitierten Textes:
Ich sehe eine Spaltung in noch dumpfer, destruktiver, autoritärer als zuvor agierende 80 % und in 20 %, die zum einen verfolgt, diskriminiert werden. In denen sich aber zum anderen vielfach unglaubliche Kreativität, Lebendigkeit, Mut bis hin zum – ganz unkitschig gemeint – Heldenhaften entwickelt hat. Da kann bei vielen tatsächlich von „Erwachen“ gesprochen werden im Sinne des Erlangens – vielleicht bitterer – Klarheit, von „Durchblick“, in was für einem Staat, System wir leben.
Noch nie in der deutschen Geschichte gab es einen derartig breiten und qualifizierten Widerstand gegen unterdrückende staatliche Autorität. Das ist großartig und lässt hoffen, dass das menschliche Potential, der „gesunde biologische Kern“, mit dem wir geboren werden, bei vielen nicht so tief verschüttet ist, wie ich dachte.
Bei der Zitierung des „gesunden biologischen Kerns“ bezieht sich Peglau auf Wilhelm Reichs Theorie, der menschliche Charakter besäße eine Struktur, die aus drei Schichten bestünde:
In der oberflächlichen Schichte seines Wesens ist der durchschnittliche Mensch »verhalten, höflich, mitleidig, pflichtbewußt, gewissenhaft.« Es folge eine »mittlere Charakterschichte, die sich durchweg aus grausamen, sadistischen, sexuell lüsternen, raubgierigen und neidischen Impulsen zusammensetzt«. Dies entspreche dem Freud´schen Unbewussten. Darunter schließlich sei der »biologische Kern« verborgen, der dem Menschen ermögliche, »ein unter günstigen sozialen Umständen ehrliches, arbeitsames, kooperatives, liebendes, oder, wenn begründet, rational hassendes Tier« zu sein – die Basis der »Selbstregulations«-Fähigkeit.
Rechtsruck, S. 48
Wirklichkeitsspaltung
Eine weitere Antwort sendet AKTION-Autor Julien Coupat:
„Alles, was du feststellst, entspricht der französischen Erfahrung. Ich glaube, dass es sich weitgehend um ein Troll-Unternehmen der Regierung handelt und dass es wichtig ist, die Erfahrung der Spaltung zu teilen, um die wahre Teilung sichtbar zu machen.
Die wahre Teilung besteht meiner Meinung nach zwischen denjenigen, die aus allen möglichen Gründen die Partei der sozialen Moral ergriffen haben – ein Verhältnis der Exteriorität zu sich selbst und zu anderen, das die Möglichkeit bedingt, jegliche Macht auszuüben, sowohl über sich selbst als auch über die Welt und die anderen; in diesem Sinne ist die Partei der Moral die Partei der Macht – … und auf der anderen Seite denen, die annehmen, dass sie sich auf einer ethischen Ebene befinden, einer „Ebene der Immanenz“, wie Deleuze sagen würde, auf der niemand berechtigt ist, jemand anderem vorzuschreiben, wie er oder sie leben soll.
Diese Aufteilung entspricht, wie man sieht, nicht strikt der Spaltung in Schafe und Impfgegner.
Ich glaube, diese Spaltung muss historisch und strategisch verstanden werden: Der Kapitalismus hat seit einem Jahrhundert gewaltsam in die Subjektivität eingegriffen, so dass die Seele für ihn zum zentralen Schlachtfeld wurde, und der Kapitalismus gewinnt dabei immer wieder, denn der offensichtlichste Schwachpunkt der gesamten sozialistischen Tradition ist ihre Schwierigkeit, sich auf das Individuum, auf die Einzigartigkeit zu beziehen; der Kapitalismus hat den Sozialismus genau dort angegriffen, weil dies der Punkt ist, an dem sein Gegner sich am unbehaglichsten fühlt, und das bleibt auch so.
Andererseits ist die Moralisierung von allem die Voraussetzung für die Einführung einer perfekten legalistischen Regierungsform (Han Fei Tse usw.) – China ist die moralischste Gesellschaft der Welt; und da die chinesische Regierungsform der Polarstern aller Mächte der Epoche ist, muss alles dem Erlass von moralischen Standards unterworfen werden.
Das bedeutet, dass es immer wieder zu aufdringlichen moralischen Standards mit sozialer Rechtfertigung kommen muss.“
Soweit Coupat.
Wohin nun von hier aus? Ich versuche zusammenzufassen.
Anti-Emanzipation
Die Deutschen sind Experten für Spaltung, beginnend mit der Zerlegung ihres Landes in zwei Teile. Die daraus resultierende Diskriminierung der eigentlich „eigenen“ Leute als „die Anderen“ ist tief eingeschrieben in das kollektive Bewusstsein. Aus dieser vorurteilsbehafteten Verdammung heraus erklären sich viele der aktuellen Phänomene. Aber nicht alle.
Jakob Hayner hat kürzlich das Versagen der Linken in dieser Situation mustergültig beschrieben, so dass ich hier nur auf den bereits publizierten Text „Wie die Linken lernten, Gehorsam und Überwachung zu lieben“ verweisen möchte.
Die „Grenze“ zwischen uns und den anderen verläuft heute längst nicht mehr, wie es schon lange an einer Hauswand in Ostberlin stand, zwischen Ost und West, vielleicht nicht einmal mehr zwischen Links und Rechts (ein Begriffspaar dass sich unter dem orchestrierten Beschuss der letzten Jahre weitgehend aufgelöst hat), sondern (wie schon immer) zwischen Oben und Unten.
Doch wie Peglau anmerkt, reicht auch die Trennung nach Oben und Unten nicht aus, um zu erkennen, was passiert. Wenn nicht derartig viele, die unten sind, die da oben unterstützten, hätten die da oben keine Macht. So heisst es weiter in Rechtsruck, S. 107: Die meisten erwachsenen Deutschen vereinen … in sich lebensfeindliche und lebensbejahende Positionen. Die entscheidende Grenze verläuft auch hier nicht zwischen Parteien, sondern zwischen Persönlichkeitsanteilen.
Delikaterweise tragen die 100 Jahre kapitalistischer Demontage und Neuzusammensetzung der Psyche jetzt Früchte, die unsere Mitmenschen weiter auseinander bringen, als das politische Konstrukt, das uns in Ossis und Wessis gespalten hat.
Die gesellschaftliche Spaltung zwischen denen, die keinerlei Skrupel haben, unsere Verhaltensweisen so zu manipulieren, wie es für sie gerade am einträglichsten ist (wirtschaftlich) und jenen anderen, die den Zugriff auf die seelische und körperliche Integrität für ethisch unzulässig halten und sich auch keine „besondere Ausnahme“ dafür vorstellen können, wird unübersehbarer von Tag zu Tag – und zwar in Form aller möglichen „Zumutungen“ (Kriminalisierung, Ausschluss, Verfemung), die die wesentlichen Elemente der in den vergangenen 200 Jahre errungenen Emanizipation wieder zurücknehmen.
Der „gewaltsam(e Eingriff) in die Subjektivität“ und die möglichen Gegenstrategien sollten wohl in den nächsten Jahrzehnten unser aller Hauptthema sein.
Noch dazu häufen sich gerade Themen, die unter diesem Angriff immer schwieriger zu behandeln sind!
Energie, Klima, Altersarbeitsgrenze, neue Formen der Armut, Bargeldabschaffung (dadurch beliebig zu beschleunigende Inflation, dh. allgemeine Verunsicherung für die unteren 95%), digital amplifiziertes Sozialpunkteprogramm (also das Prinzip von Strafe und Belohnung), Dauerüberwachung (und kommerzielle Ausbeutung jeder Aktivität/Bewegung, dadurch Versiegelung aller Nischen für Rückzug und Alternative) – die Liste ließe sich fortsetzen.
Bei allen diesen Fragestellungen fällt unmittelbar auf, dass die im Westen erlernten politischen Begriffe und Strategien nicht mehr greifen, trotz einer jahrzehntelangen Erprobung des Widerstands in einer (wie man heute sieht: weitgehend verlogenen) Friedensbewegungs-, Öko- und Grünen-Vergangenheit.
Genau jetzt, als es erstmals wirklich darauf ankommt und für alle zum existenziellen Thema wird, knicken die erwähnten Widerstandsgruppen ein und machen jeden Mist kritiklos mit, schlimmer noch: unterstützen flammend das Zersetzende, De-Solidarisierende, Kriegerische.
Wie Coupat richtig sagt: die wesentliche Linie verläuft jedoch gar nicht zwischen „Schafen“ und „Coronaleugnern“, sondern zwischen denen, die Zugang zur Macht haben und ihn (mit Unterstützung der Massen williger Schergen) vollständig ethikfrei nutzen und denen, die von diesen Eingriffen betroffen sind und immer weniger Chance haben „zu desertieren“ oder zu „resignieren“ (Franco Bifo Berardi), also sich zu entziehen, um jenseits der Einordnung in die bestehenden Machtverhältnisse etwas eigenes Anderes aufzubauen.
Ergänzung nach einer weiteren Diskussion zum Thema am 30.5.23:
Das Festhalten an Einheit und Übereinstimmung ist unter den Bedingungen, wie sie in den letzten Jahren entstanden sind, fragwürdig geworden – Bedingungen übrigens, die auf die Spitze getrieben, nischenfrei global ausgedehnt und beschleunigt werden von epidemisch verbreiteten Kommunikationstechnologien, die für die hemmungslos überaufgeblähten Erwartungen der sie nutzenden Zeitgenossen in einem nicht zu vernachlässigendem Umfang qualitative Maßstäbe setzen, so dass man insbesondere in den Metropolen nicht mehr umhinkommt, die Proponenten dieser Kultur für Mitglieder einer fremden Spezies zu halten. Vielleicht ist die Spaltung real längst vollzogen.
Ist mit Leuten dieser Spezies Verständigung noch möglich? Ist sie interessant? Zielführend?
„Seperation“ ist so betrachtet hilfreich, vielleicht sogar nötig: scheiden tut zwar weh, aber vielleicht ist nach all den Jahren der Einvernehmlichkeit – bisweilen über politische Differenzen, über längst bestehende Bruchlinien hinweg – wegen des (vermeintlichen) Zusammenhalts gegen den „Klassenfeind“ nun eine Zeit der Trennungen angebrochen: damit Unterschiede klar und unverbrüchliche Linien gezogen werden können, hinter die es kein Zurück geben kann.
Lieber Olaf,
erstmal: Herzlichen Glückwunsch zu Deinem/ euren Erfolg!
Danke, dass Du auch aus dem „Rechtsruck“-Buch zitierst. Dort habe ich mir ja dutzende Seiten Platz genommen, um das zu erklären, was ich versuchsweise so zusammenfassen könnte:
1) Ein Einzelner, der in einem hierarchischen System oben ist, hat mehr Macht, Verantwortung oder auch Schuld, als ein Einzelner, der unten ist.
2) Es gibt aber keine zwei Kasten: oben/ unten. Sondern eine Macht-Pyramide. Schon deshalb ist oben/ unten gar nicht leicht abzugrenzen: Wo an der Pyramide machst Du den Schnitt?
3) Die Wenigen oben könnten nicht Macht ausüben ohne die widerwillige bis begeisterte Unterstützung der Vielen von unten.
4) Oben und unten verbinden vielfach – zum Teil unbewusst – gemeinsame Werte und Normen.
5) Als politische Führer/ Gallionsfiguren/ Idole taugen vor allem die, welche die massenhaft verbreiteten, zumeist neurotischen Charakterstrukturen besonders gut verkörpern. Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient (Joseph de Maistre, 1810) = die Regierung, die zu diesem Volk passt.
6) Die entscheidende Grenze verläuft innerhalb jedes einzelnen Erwachsenen: zwischen herbeisozialisierten lebensfeindlichen, nicht zuletzt autoritären seelischen Strukturen und lebensbejahenden Strukturen (angeborene Pro-Sozialität: „guter Kern“).
7) Die, bei denen Letzterer am tiefsten verschüttet ist, eigenen sich umso besser zur Übernahme politischer Führungsfunktionen, je lebensfeindlicher das jeweilige System ist.
8) Unser aktuelles System wird immer lebensfeindlicher. Im Sinne von Reich wäre es jedoch falsch, Kapitalisten, Eliten oder gar einzelnen Führerinnen und Führern die alleinige Schuld dafür zu geben: Die anerzogene Zerstörungswut der „Massen“, also unsere Zerstörungswut, verlangt ebenfalls unbewusst nach einem System, das dieser Destruktivität Ventile verschafft. Auch wenn aus Politik, Medien und Wirtschaft machtvolle Vorgaben kommen, sind es doch vor allem wir, die als Eltern, Erzieher und Betreuer das ausführen, befürworten oder zulassen, was Sozialisierung genannt wird – und was wiederum in unseren Kindern destruktive Anteile erzeugt.
9) Darüber hinaus fördern wir spätestens durch das Zahlen von Steuern nicht nur Sinnvolles, sondern auch alles Reaktionäre und Zerstörerische, wofür unser Staat ebenfalls steht, vom ganz Europa kontaminierenden Neoliberalismus bis hin zum Flankieren kriegerischer Auseinandersetzungen. Wir sind dadurch mitverantwortlich für das Elend, das auch in unserem Namen über große Teile der Erde gebracht wird – und dafür, dass die auf diese Weise ins Elend Gestoßenen früher oder später versuchen, in ebenfalls destruktiver Weise zurückzuschlagen. Wir – die »Massen« – sind also selbst daran beteiligt, Verhältnisse herzustellen und aufrecht zu erhalten, unter denen auch wir leiden.
10) Wilhelm Reich schrieb 1946 in der dritten Auflage der „Massenpsychologie des Faschismus“ (1986, S. 13-15):
„[Im] charakterlichen Sinne ist ‚Faschismus‘ die emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen der maschinellen Zivilisation und ihrer mechanistisch-mystischen Lebensauffassung. Der mechanistisch-mystische Charakter der Menschen unserer Epoche schafft die faschistischen Parteien und nicht umgekehrt.Der Faschismus wird auch heute noch, infolge des politischen Fehldenkens, als eine spezifische Nationaleigenschaft der Deutschen oder Japaner aufgefasst […].
Meine charakteranalytischen Erfahrungen überzeugten mich dagegen, dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge […].
Demzufolge gibt es einen deutschen, italienischen, spanischen, anglosächsischen, jüdischen und arabischen Faschismus […].
Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, wenn man ihn, je nach politischer Konjunktur, nur im Deutschen oder Italiener und nicht auch im Amerikaner und Chinesen sucht; wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt.“
Und genau hier endet nach meinen Erfahrungen bei den allermeisten – ich befürchte, auch bei den allermeisten Anarchisten – die Bereitschaft, mitzugehen.
Ich würde mich in dieser Hinsicht aber gern eines Besseren belehren lassen …
Herzliche Grüße
Andreas
Auf diesen Satz bin ich erst jetzt richtig aufmerksam geworden:
„Delikaterweise tragen die 100 Jahre kapitalistischer Demontage und Neuzusammensetzung der Psyche jetzt Früchte, die unsere Mitmenschen weiter auseinander bringen, als das politische Konstrukt, das uns in Ossis und Wessis gespalten hat. “
Ich bin ja ehemaliger DDR-Bürger. Ich glaube nicht mehr, dass wir dort „richtigen“ Sozialismus hatten. Aber wir hatten eben auch für 45 Jahre ganz sicher keinen Kapitalismus.
Leider waren aber viele patriarchalische, kleinbürgerliche und autoritäre Prägungen – die uns nicht nur mit dem früheren Deutschland verbanden, sondern auch mit der BRD – so unzureichend angetastet worden, dass die meisten DDR-Bürger und -Bürgerinnen 1990 anfangs recht reibungsarm in den Westen „überlaufen“ konnten.
Insofern fand auch in der DDR zu Teilen eine nicht grundsätzlich von der BRD verschiedene „Demontage“ von Psyche statt.
Siehe dazu u.a. mein Gespräch mit Hans-Joachim Maaz von 1990: „Sind wir alle potentielle Stalinisten?“ (https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/sind-wir-alle-potentielle-stalinisten-die-psychischen-grundlagen-der-ddr-gesellschaft/)
Allerdings zeigt sich – und auch das ist eine der erfreulichen Erkenntnisse, welche „Corona“-Maßnahmen und Kriegspolitik der aktuellen Regierung ermöglichten -, dass sich einiges an sozialistischen, internationalistischen Ideen, an Friedenswünschen und an Kritikfähigkjeit gegenüber Unterdrückung bis heute „im Osten“ stärker erhalten hat, als ich es mir hätte vorstellen können.
(siehe auch hier den Beitrag zur größten DDR-Demonstration am 4. Oktober 1989 mit bis zu einer Million Menschen: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/eine-sozialistische-protestdemonstration-berlin-alexanderplatz-4-november-1989/)
Es gibt also in unseren demontierten und neuzusammengesetzten Psychen auch wichtige Ost-West-Unterschiede, an die produktiv angeknüpft werden kann.
Spaltung der Gesellschaft? Viel schlimmer: eine immer weiter sich fortsetzende Zersplitterung in kleine und noch kleinere Teile, von denen sich jedes selbst behaupten will. Bestes Beispiel: der Gewerkschaftsstreik von kleinen Gruppen, die ein Land lahmlegen können und damit 10-12% mehr Lohn bekommen, den wir alle zahlen müssen und zwangsläufig selber die Preise auch wieder anheben. Eine Kette ohne Ende, wenn nicht die Einsicht kommt, dass das Ganze mehr im Vordergrund stehen muß, der Zusammenhalt, anstelle von rücksichtlosem Egoismus.
Gewalt und Macht sind die Werkzeuge der InBeziehungsSetzung der bürgerlichen Normalität der Moderne und somit Grundlage der inneren und folglich äusseren Zersplitterung des Menschen. Die hemmungslose Betrachtung der Umstände lässt per Umkehrschluss Licht einfallen. Es geht um ein Verhältnis der Interiorität zu sich selbst und zu anderen! Dies ist der blinde Fleck der gutmenschlichen Luftschlösser. Die Ausblendung der notwendigen Überwindung der Gewalt im Innern hat die gängigen ‚linken‘ Ansätze zum Scheitern verurteilt und erklärt den totalen Krieg derselben gegen die ‚libertären‘ – heute liesse sich wohl sagen ‚spirituell integrierten‘ – Herangehensweisen. Alle InBeziehungsSetzung über das Aussen ist der Garant für die Kontinuität der materialistischen Haustierdoktrin des Krieges. Lediglich die Überwindung der Gewalt im Innern, und zwar gemeinsam, kann der exoterischen Doktrin der RaubritterZivilisation etwas entgegensetzen.
Dies ist die mentale Migration im EinZelTing anhand der Deprogrammierung des Trennenden in der AuswilderungsKooperative (in meinen Wortbildern) oder der Bund des Vielfältigen Landauers, der vor nun 123 Jahren in der Absonderung zur Gemeinschaft dies präzise auf den Punkt gebracht hat, um nicht zu Meister Eckhart oder Ibn Arabi zurückzugehen.
Doch es wird immer schlimmer; inzwischen – erst recht taub durch die nicht aufgearbeitete ‚spektakulär-spirituelle Verbrühung‘ der 30er und zementiert durch die materielle Korruption der Konsumgesellschaft – ist Hingabe fast nur noch kompetitiv (in Trennung) zu finden, niemals integriert. Ohne angstüberwindende Hingabe allerdings – machen wir uns nichts vor – wird in absehbarer Zeit das Überleben nicht wieder zu Leben werden. Keiner desertiert im Lehnstuhl. Lediglich ein emotional integriertes Verhältnis der Interiorität zu sich selbst und zu anderen – lediglich in co-inspirierender alltäglicher holistischer Praxis jenseits der Taktung der Maschine zu erringen – kann uns die Augen für das Licht am Ende des Tunnels öffnen. Auswilderung hilft!
Negts Analyse, die im Eingangs-Zitat aufscheint, dass „das offizielle Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig erscheint – die Wahlen werden nicht gefälscht, die Korruption ist nicht endemisch, die Machtteilung wird respektiert, Recht wird gesprochen“, findet nicht meine Zustimmung.
Das Negt-Zitat als Quelle der Titelgebung kann ich nicht nachvollziehen. „Wirklichkeitsspaltung“ gibt mir Rästel auf. Ist nicht eine gespaltene Wirklichkeit auch Wirklichkeit? Lässt sich Wirklichkeit überhaupt spalten?
Viel wichtiger:
Ist das Institutionengefüge wirklich „völlig“ intakt und funktionsfähig? Sind die Wahlen nicht allein schon aufgrund der betäubenden Wahlpropaganda aus Spindoktoren und Design ein Betrug? Was muss denn noch passieren, um Korruption als endemisch bezeichnen zu dürfen? Der Großteil des Wissenschaftsbetriebs ist karriere- und drittmittelkorrupt. Respektierung der Machtteilung, wo man keine Spuren von Machtkontrolle mehr nachweisen kann? Wo das Recht der Stärkeren gesprochen wird?
Negt hat, so würde ich sagen, eine sozialdemokratische Brille auf, durch die hindurch alles nur noch orange erscheint. … Negt war, wenn ich mich recht entsinne, Assistent bei Habermas. Auch Habermas erweist sich als Kommunikationsapostel, der als Blumenschmuck für die sterbende Republik herhalten muss. Wo schlägt die Faust aufs Rednerpult oder die Tischplatte?
… Oder Coupats Statement: „China ist die moralischste Gesellschaft der Welt; und da die chinesische Regierungsform der Polarstern aller Mächte der Epoche ist, muss alles dem Erlass von moralischen Standards unterworfen werden. Das bedeutet, dass es immer wieder zu aufdringlichen moralischen Standards mit sozialer Rechtfertigung kommen muss.“
Mir missfallen derlei Verallgemeinerungen, die dazu dienen, ober die chinesische Hintertür den eigenen Mandarinen den Marsch zu blasen.
Warum nicht direkt und im Angesicht der Feinde?
Lieber Rudolph, ich schätze Deine Genauigkeit und die Unnachgiebigkeit, mit der Du meine Texte analysierst. Du gehst allerdings diesmal gleich einen Schritt weiter als Negt und missverstehst ihn dadurch. Ich habe Negt oft in freier Rede einen Gedanken über 90 Minuten entwickeln hören und ich erinnere nicht, dass er je unpräzise formulierte – wofür ich voller Bewunderung war, obwohl ich seine Politik-Beratung, insbesondere Kanzler-Schröder-Affinität stets mit großer Skepsis betrachtet habe. Deswegen bin ich sicher: wenn Negt „völlig intakt und funktionsfähig erscheint“ sagt, meint er den Schein und nicht, dass das Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig „sei“, wie Du es liest.
Ich denke, wenn Negt noch Blogs läse (was ich nicht weiß, ob er das tut), würde er Deiner Bestandsaufnahme zustimmen. Denn gerade die Aufrechterhaltung des falschen Scheins führt ja zu jener Spaltung, die er beklagt.
Auch meine ich, dass es mehrere Wirklichkeiten gibt. Denn Wirklichkeit ist ja stets subjektive geistige Welterfahrung, bestimt durch Definitionsmacht, philosophisches oder ganz primitiv: pekuniäres Interesse. Wirklichkeit wird gemacht. Das Machthaber, Meinungsführer oder Potentaten Interesse daran haben, ihre Wirklichkeit als alternativlos auf alle zu projizieren, ändert nichts daran, dass ein Riss mitten durch die bislang allgemein für gültige gehaltene Wirklichkeit gehen kann..
«Das Zitat stammt aus einer Antwort auf ein Papier mit 20 Aspekten der gesellschaftlichen Spaltung, das ich im frühen Mai 2023 an diverse Autoren der AKTION versendet hatte in der Hoffnung auf einen anregenden Rücklauf.»
Ist das 20-Aspekte-Papier öffentlich und irgendwo zu finden? So hat der nichtinvolvierte Leser zwar die Kommentare, aber nicht deren Gegenstand. So hängen die Kommentare etwas bezugslos in der Luft.
Ansonsten Gratulation für die hervorragende Website!
Sehr geehrter Herr Martin, danke für die lobenden Worte, die ich gern in Bezug auf Ihre Seite https://weltexperiment.com/ zurückgeben möchte. Anders als in anderen Jahrhunderten werden künftig nicht mehr Bibliotheken oder die Papiere von Enquete-Kommissionen und EU-Gutachten (um nur einige zu nennen), also keine institutionell organisierten, sondern aus persönlichem Engagement entstandene Dokumentationen die Quellen späterer Forschung sein – falls es bis dahin nicht irgendeinem hoheitlich gesteuerten Virus gelingt, alle Inhalte mit Hilfe von KI umzuschreiben. Doch Spaß beiseite: ich bin schon ein paar Mal nach dem Papier gefragt worden – allerdings verspricht der Titel mehr, als der Inhalt hält: es waren tatsächlich eher dürftige, erste Gedanken und Anstösse, die dann vornehmlich, neben den bekannten Kommentaren unter dem Text, in zwei weitere Publikationen, die „Thesen“ von Moses Dobruska (https://olaf.bbm.de/nummer-43-moses-dobruska-wie-alles-anfing) und den Text über die emotionelle Pest (https://olaf.bbm.de/die-emotionelle-pest) mündeten. Wir haben also nichts zurückgehalten, sondern nur in Form gebracht.
Auch wurde und wird die Debatte um die Spaltung fortgesetzt: den eindrucksvollen Bericht, den wir unter https://olaf.bbm.de/die-entladung veröffentlicht haben, rechne ich hierzu (er zeigt, dass eine Spaltung, heutzutage insbesondere gut fühlbar in den Großstädten, längst vollzogen wurde und die Corona-Zeit hierfür „nur“ ein radikal neues Wording, einen verblüffend radikalen Umgang mit der Wahrheit = mit allen Menschen sichtbar gemacht hat). In den nächsten Tagen werden auch weitere „Thesen“ von Dobruska erscheinen, die sich aus Reaktionen auf die Veröffentlichung bei uns, sowie die Übersetzung ins spanische, griechische, englische bereits ergeben haben.