Die Diktatorin

Leseprobe: Auszug aus Olaf Arndts neuem Roman “KAISERGABEL”

Foto: Peter Hiltmann Hannover 2021

Am 16. Dezember 2021 beginnt die Auslieferung meines neuen Romans “KAISERGABEL”. Er erscheint – wie schon “Unterdeutschland” – bei mox&maritz Bremen und kann ab dem 10. Januar 2022 in jedem guten Buchladen bestellt werden. Wer unbedingt gern schon ein Exemplar vorab oder ein signiertes Exemplar haben möchte, schreibt mir eine Mail über diese Website.

1975. Wir haben schulfrei, meine Schwester und ich. Mutter hatte schon zum Frühstück gesagt, das sei kein Grund, morgens um 9:00 Uhr Schallplatten zu hören. Dabei tat sie wieder einmal so, als wenn sie nur mit mir redete. Meine Schwester behandelte sie wie Luft.

Von meinem Platz vor dem Fenster konnte ich über das kiesbedeckte Flachdach unseres Anbaus gucken, und über die Garage vom Telefunken-Direktor, deren Dach ebenfalls eingeteert und mit Kies bedeckt ist. Scheelhaases machen uns immer alles nach. Das nervt Mutter. Hinter der Garage die leere Straße. Wie üblich.

Über mir hängen zwei Poster. Der Mond, erdabgewandte Seite. Daneben T. Rex in schwarz-weiß, die seltene Beilage zur Erstauflage von Electric Warrior 1971.

Zwei Fotos, zwei Ziele. Erstens. Möglichst weit weg kommen von hier, auf die erdabgewandte Seite. Dabei zweitens möglichst lässig aussehen, so wie Marc Bolan. Er sitzt auf einem zerknautschten Sessel. Sein linker Arm liegt auf einem Stück weißer Spitze. Ich vermute, die Stickerei verdeckt eine Schadstelle an der Lehne. Während die rechte Hand komponiert, reibt die linke eifrig den Stoff runter. Ein blanker Fleck auf seiner Seele. Den will er natürlich nicht zeigen. Genies sind nicht nervös beim Komponieren.

Genies sind völlig entspannt.

Wie gesagt, der Sessel ist oll. Aber fett wie ein Thron. Vor dem Thron schwebt ein Glas Weißwein auf einem Glastisch. In seinem Rücken, klein wie Spatzen auf seiner Schulter, Mickey Finn und die anderen Musiker. Alles ist mit Orientteppichen ausgelegt. Nicht so mein Stil. Aber ich verstehe schon. So eine Teppichhöhle, das ginge bei Eltern gar nicht. Außerdem hat Bolan ein Bein untergeklappt. Der Stiefel steht auf dem Sitzkissen. Das ist pure Provokation. Mitten im Wohnzimmer. Die Schuhe auf dem Möbel.

Vater hat meinen Mond auf eine Pressspanplatte aufgezogen. Mit Leim. Weil Pressspan selbst hauptsächlich aus Leim besteht, hat er auch die Rückseite beklebt. Neutral, einfach mit einem Bogen Papier. Vater kennt sich aus. Er ist nicht umsonst Ingenieur. Techniker wissen, wie das geht. Wenn er sich schon die Mühe macht, soll die Platte sich nicht krummziehen.

T. Rex habe ich mit Tesa zwischen die lichtgrauen Regalböden von Dieter Rams geklebt. Nicht ideal. Dafür ging es schnell.

Vater hat für den Mond den ganzen Samstag Vormittag gebraucht. Blasen waren das Hauptproblem. Blasen mitten im Bild, da wo eigentlich Krater liegen.

Wir wohnen Nummer 1. Am Ende vom Sack. Oder ganz vorn, wie man’s nimmt. Jedenfalls direkt am Wendehammer. In der Nische vor Nummer 5, hinter den Scheelhaases, parkt der Mercury Cougar von Herrn Amiri.

Herr Amiri ist Perser. Seine Firma ist gerade pleitegegangen. Am Ihme-Zentrum. Den Cougar durfte er behalten. Beziehungsweise gehört der jetzt seiner Frau. Der Cougar ist kobaltblau metallic. Ein echter Lichtblick. Wenn es in Hannover ausnahmsweise mal nicht regnet, glitzert der Lack in der Sonne wie die Schah-Moschee.

Ölkrise hin oder her. Mit dem Cougar kommst du sehr schnell sehr weit weg von hier. Über die Fähre nach London zum Beispiel, T. Rex besuchen. In London regnet es auch dauernd. Nichts hat nur Vorteile. Vorläufig, solange der Führerschein noch in weiter Ferne liegt, bleibt mir wenigstens die Musik.

Marc grient mich an. Eine Locke hängt über seine Stirn an der Nase vorbei bis zum Kinn herunter. Er sagt, du schaffst es. Halte durch.

An der Anlage habe ich kürzlich viel verbessert. Die innen vergoldeten Lautsprecherkabel wurden neu verlegt. Schräg, ohne scharfe Knicke. Das optimiert den Sound, weil weniger Ohm entsteht. Habe ich mir sagen lassen. Ohm will man nicht haben. Der brummt.

Ich habe kalte Füße. Kein Sessel zum Hochstellen, wie in Bolans Wohnzimmer. Socken auf Teppichboden, das wärmt nicht richtig.

Wenn es stimmt, dass der ganze Bau aus massivem Kalksandstein bestehts, zwei Schichten gegeneinander gemauert, und mit den angeblich vollkommen ausreichenden sechs Zentimetern Coloroc zusätzlich gedämmt, dann musste das Konstrukt an dieser Stelle ein Loch haben, genau dort, wo ich saß, um Schularbeiten zu erledigen. Coloroc – die hinterlüftete Steinfassade aus Schweden hatte zweifelsohne von dort oben kalten Zugwind mitgebracht. Im Vertikalschnitt ohne Abstandsleisten kann man gut sehen, wieviel Platz für den eisigen Atem des Nordens da bleibt. Und überhaupt haben Vorhangfassaden nur einen einzigen Vorteil: Man kann die angeblichen Steine, in Wahrheit aufgeschäumte Rauhputzplatten, die mit echtem Stein soviel zu tun haben wie eine echt fotografierte Holztapete mit einem Brett, jederzeit von ihren säurefesten Bügeln an den Montageleisten herunternehmen und Ersatzschlüssel dahinterschieben. Oder Geheimbotschaften. Dabei kannst du aber für sicher davon ausgehen, dass du dir die Haut der Handrücken zerkratzt, weil die Kanten von dem Zeug messerscharf sind: Das Ergebnis von jahrelanger Forschung und Entwicklung. Solche kleinen Schrammen und Hautabschürfungen sind verräterisch. Immer beide Hände zugleich. Mutter wusste daher, wann wir wieder an der Fassade rumgefummelt und etwas dahinter versteckt hatten. Im Haus war wenig Chance, etwas unbemerkt zu tun.

Ich schaute auf die leere Gummimatte vom Plattenspieler und beschloss: Heute ist der Tag der Abrechnung:

Sippenpanorama I. Ich stamme aus einer ganz normalen Familie. Meine Mutter wäre, wenn es zu ihrer Zeit schon freie Berufswahl für Frauen gegeben hätte, sicherlich Diktatorin geworden.

Punkt. Das sitzt. Da kann ich direkt Teil zwei hinterherschieben.

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