Präzision

Wir haben es wieder einmal geschafft. Neujahr ist da. Grund genug, einen Blick zurückzuwerfen. Auf Weihnachten.
Wie ist es diesmal gelaufen? Harmonisch? Ätzend? „Nie wieder“ oder „Jetzt erst recht“?
Dietrich Brüggemann entscheidet sich für beides. “Präzision ist wichtig”, sagt Norbert, der Vater in SIE SAGEN ES WIRKLICH, der wahrscheinlich ersten Kurzgeschichte des Jahres 2024, die heute & exklusiv für unsere Leser in DIE AKTION erscheint.

Nach Corona zu erklären, wer Brüggemann ist, erübrigt sich wohl. Denn entweder man hasst oder achtet ihn, spätestens seit #allesdichtmachen: für beide emotionalen Beziehungen dürfte sein bodenloser, entlarvender Zynismus der Grund sein (das Exlexikon und Onlineportal zur Ächtung unerwünschter Ansichten, wikipedia.org, listet das Projekt stilecht als „Kontroverse“ ) Oder man verehrt ihn bedingungslos, seit man „Materialermüdung“ atemlos in einem Rutsch durchgelesen hat. So schmerzhaft wie seine Kritik ist, so brachial ist sein Humor, diese in der Gegenwartsliteratur quasi ausgestorbene Begabung, schonungslos zu sein, ohne zu deprimieren.

Fassungslos und höchst amüsiert zugleich beobachten wir in SIE SAGEN ES WIRKLICH mit den Augen des Filmemachers eine Familie unter Einfluß.

Brüggemanns Sätze dringen in den Körper der Sippe wie Instrumente der endoskopischen Chirurgie, minimalinvasiv und dennoch voll ins Mark treffend: ein schonungsloser Trip in den Hohlraum der Verwandschaft. So gelingt ihm die lang überfällige Ablösung für Heinrich Bölls „Nicht nur zur Weihnachtszeit“.

Der Autor treibt vorsätzlich gefährlichen Umgang mit Vorurteilen: er verhohnepiepelt Einstellungen, die in jüngster Zeit als unantastbar gelten.
Er zeigt damit in aller Schärfe, warum er auf das politische Sakrileg abonniert zu sein scheint – weil es nämlich die einzige brauchbare Technik ist, die Ungeheuerlichkeiten aktueller Meinungsbildung als das zu entlarven, was sie sind: Denkverbote.

So gelingt ihm ein Kleinod der Klischee-Verarschung. Wobei das Klischee trüberweise ziemlich nah an der Realität klebt. Das macht insbesondere die Passage über den Nachbarn unter AfD-Verdacht klar. Unwillkürlich fragt sich der Leser, ob nicht schon seit geraumer Zeit Ram Charger Pickups serienmäßig mit einem “Fuck Greta“-Aufkleber ausgestattet sind?

Erst dadurch, dass Brüggemann weder den vermeintlich inkorrekten Witz scheut, noch sich von sauertöpfischem „Ticket“-Denken (Hendrik Wallat) einfangen lässt – jener blinden Meinungsgefolgschaft, hinter der sich alle, die schon gratis, ohne es je versucht zu haben, eine abweichende Meinung zu formulieren, aus Angst vor dem Shitstorm verbergen –, öffnet sich der Blick in den Abgrund, der seit Böll alljährlich mit Bergen von Gänsekeulen und Spekulatius verfüllt wird.

Die Redaktion der AKTION wünscht viel Vergnügen!

Eine Antwort auf „Präzision“

  1. Vielen Dank für diesen Text, Danke für Eure Arbeit,

    am Ende dieser Brüggemannschen Weihnachtsgeschichte kamen mit die Tränen, und das als 60 Jahre alter weisser Mann, so präzise die gesamte Lage erkannt und benannt, in der wir jetzt leben.
    Whow, Danke Herr Brüggemann für diesen Text, Danke für die Veröffentlichung Herr Arndt. Mehr ist nicht zu sagen, Präzision.

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