Im allgemeinen interessieren die Welt nicht die Motive einer offensichtlichen Tat, sondern deren Konsequenzen. Der Mensch mag immer nur lächeln, doch er ist kein forschendes Wesen.
Er liebt das Offensichtliche. Vor Erklärungen schreckt er zurück.
Joseph Conrad, Der Geheimagent
Hallo P.! Du hast mich um Lektüreempfehlungen gebeten, die zu unserer turbulenten Zeit passen. In der selben Botschaft hast Du mich gefragt, warum so wenig auf dem Blog passiert in letzter Zeit. Ich will versuchen, Dir auf beides eine Antwort geben.
I. Dick
Vor kurzem hat der Autor der „Aktion“, Franco Bifo Berardi (siehe: „Resigniert massenhaft!„), in einem äußerst dunklen, doch hochgradig lesenswerten Interview die Behauptung aufgestellt, dass die Zeit für ökonomische Theoriebildung abgelaufen sei. Was wir bräuchten, um die Gegenwart zu verstehen, seien Dystopien.
Berardi sagt wörtlich: „Octavia E. Butler und viele andere haben die Welt unserer Zeit bereits auf sehr präzise Art beschrieben. Butler veröffentlichte 1993 »Die Parabel vom Sämann« und beschreibt darin das Jahr 2025. Ein neuer Präsident will »America great again« machen. Diese Geschichte entfaltet sich im Buch exakt so wie unsere Realität, mit dieser kompletten Verrücktheit, Grausamkeit, Aggressivität, Gewalt und Einsamkeit.“
Als zweites Beispiel erwähnt er Philip Kindred Dick. Das hat mich sehr gefreut. Denn Dick gehört eindeutig zu meinen Lieblingsautoren. Sein Humor und das körperlich spürbare Tempo, mit dem alle Texte verfasst sind, bewundere ich zutiefst. Brutaler kann niemand die herrschenden Verhältnisse demaskieren, als Dick dies getan hat, insbesondere in seinen sozialkritischen Texten über das Amerika der 50er und 60er Jahre, die zwar aus Verkaufs-Gründen und zur Vermeidung von Zensur teils vage in einen Science-Fiction Rahmen eingebettet sind, doch eigentlich von den Menschen und der Politik seiner Zeit handeln.
Mein erste Empfehlung lautet: lies diese famosen, zeitkritischen Texte von Dick. In ihnen bildet der öde Alltag der 50er die Tapete, vor der sich ungeheuerliche Wohnzimmer-Szenen abspielen: die Missverständnisse unter Eheleuten, die auf dem Schutt ihrer frisch angeschafften Wegwerfwelt hocken, ihre permanente Abgebranntheit mit dem täglich neu auftauchenden Zwang, das Auto versetzen, aber vorher noch ohne einen Cent in der Tasche einkaufen zu müssen, die paranoiden Nachbarsspione, die mißgünstig alles mitschneiden und die drohende globale Apokalypse.
Es gibt kaum etwas Besseres. Du wirst viel lachen – auch wenn manchmal ein bitteres Schlucken dazukommt, so fatal bekannt werden Dir Dicks Nachkriegsamerika und die gewissenlosen Potentaten an seiner Spitze vorkommen.
Berardi schließt seinen Literaturtipp mit Worten, die ebensogut aus der Feder von Dick stammen könnten, dem wir in diesem Blog bereits vor fünf Jahren einen entsprechenden Beitrag mit dem Titel „Variante Zwei“ gewidmet haben:
„Nennen Sie es, wie Sie wollen: Kommunismus, Sozialismus, Sozialdemokratie. Ich spreche von der Fähigkeit, zusammenzuhalten, zusammen in Liebe, in Arbeit, in der Schule. Aber das ist alles vorbei. Die Subjektivität ist unumkehrbar nicht mehr in der Lage, Formen der Solidarität hervorzubringen. Das ist die soziale Desintegration, die finale Explosion unserer Zivilisation.
Ich sehe keinen Prozess eines Neuaufbaus, einer Neukomposition. Ich sehe das Aussterben der menschlichen Zivilisation. Aber das ist nicht so schlimm, denn wir haben bereits die Automaten erschaffen. Die Automaten werden unseren Platz einnehmen. Sie werden mit Sicherheit effizienter sein. Und das Wichtigste? Sie werden nicht leiden. Uns Menschen bleiben nur Bedingungen, unter denen Vergnügen und Lust verschwunden sind und wir ausschließlich Schmerz erfahren. Daher bevorzuge ich, dass die Automaten nach vorne schreiten.“
II. Balzac
Kürzlich sprach ich mit einem Freund aus Perleberg. Wir teilen die Leidenschaft für Honoré de Balzac, für die Soziologie der grassierenden Verachtung. Während ich erst spät in meinem Leben dazu gekommen bin, die „Menschliche Komödie“ zu lesen, mit großem Genuß übrigens insbesondere die kleineren, teilweise hochgradig absurden Romane über die Verstiegen- und Verkommenheit der Zeitgenossen in den 10er bis 30er Jahren des 18. Jahrhunderts, hat mein Perleberger Freund aufgrund der exzellent gemachten DDR-Ausgabe im Aufbau-Verlag schon im Alter von 18 Jahren Band um Band verschlungen.
Er sagt rückblickend: ich habe damals verstanden, welche gesellschaftlichen Katastrophen und biografischen Abgründe durch ein Leben unter den Bedingungen des Kapitalismus zustande kommen können. Wie habgierig und menschenverachtend Geld macht. Aber ich hätte niemals damit gerechnet, dass all das in meinem eigenen Leben noch passieren würde, wovon Balzac schreibt.
Nun will ich hoffen, dass mir das Meiste von dem, was ich in „Eugenie Grandet“, „Die Suche nach dem Absoluten“ oder „Das Chagrin-Leder“ mit Begeisterung und Entsetzen zugleich gelesen habe, persönlich erspart bleibt. Aber ich will auch nicht verhehlen, dass ich mir aus naheliegenden Gründen letztes Jahr das von Honoré Daumier illustrierte und „zum Gebrauch der ruinierten Leute“ bestimmte „Handbuch des Handelsrechts“ mit dem schönen epischen Titel „Die Kunst, seine Schulden zu bezahlen und seine Gläubiger zu befriedigen, ohne auch nur einen Sou selbst aus der Tasche zu nehmen“ gekauft habe. Ich kann nur sagen, die Anschaffung hat den Einstandspreis gelohnt.
Zweite Leseempfehlung also: kauf dir alles, was du aus der Aufbau-Edition bekommen kannst (keine große Anschaffung: im Schnitt für 2,00 bis 4,00 Euro je Band erhältlich). Alle lohnen und man wird nach den ersten fünf schön süchtig. Danach kannst du dir – vielleicht mit Ausnahme von „Vernichtung“ – auch jeden Houellebecq ersparen. Denn auch er ist ein manischer Balzacist, nur nicht ganz so ätzend.
III. Le Guin
Auf einer höheren Windung der philosophischen Spirale führt eine andere Autorin die Themen von Dick und Balzac zu einem verblüffenden Ergebnis. Die Rede ist von Ursula K. Le Guin, mit der Dick 1947 in der gleichen High-School-Abschluss-Klasse war, ohne dass die beiden sich kannten.
Wir müssen jetzt einige Leseminuten Anthropologenwissen erdulden, um zu kapieren, aus welchem Verständnis der Gegenwart heraus die Science-Fiction Autorin Le Guin dystopische Top-Bestseller wie „Planet der Habenichtse“ schreiben konnte.
In dem kleinen, dicht mit wertvollen Gedanken geladenen Essay-Sammelband „Am Anfang war der Beutel“ geht Le Guin mit Claude Lévi-Strauss (Strukturale Anthropologie II, S. 318) der Frage auf den Grund, ob unsere Zivilisation einem eher tierischen oder einem virusartigen Typus entspricht.
Tierisch nach Lévi-Strauss´ Definition sind Zivilisationen, deren „fleischlichen Charakter die lebendige Kunst wiedergibt, weil sie … mit einem bestimmten Gleichgewichtszustand zwischen Mensch und Natur verbunden ist“.
Unsere moderne Zivilisation scheitert offenkundig an dieser Aufgabe.
„… andererseits ist die Realität des Virus fast intellektueller Natur. In der Tat reduziert sich sein Organismus praktisch auf die genetische Formel, die er einfachen oder komplexen Wesen injiziert, womit er ihre Zellen zwingt, ihre eigene Formel aufzugeben, um der seinen zu gehorchen und ihm ähnliche Wesen zu produzieren.“
Das klingt nach einer gültigen Beschreibung für die heutigen Zustände. Ich will damit keine Antwort geben, wo nicht einmal Lévi-Strauss Rat weiß – er fragt sich nur, welcher der passendere der beiden Typen sei, welchem Prinzip wir mehr entsprechen? – doch schon 300 Seiten früher im selben Buch hat der bekannte Anthropologe insofern eine Antwort, als er konstatiert, dass es nur den „tierischen Zivilisationen“, die an ihrem eigenen Wesen festhalten und das Eindringen der Geschichte mit großer Anstrengung verhindern, gelingt „jene Treibkraft des kollektiven Lebens auszuschalten, die differentielle Abstände zwischen Macht und Opposition, Mehrheit und Minderheit, Ausbeutern und Ausgebeuteten verwendet“.
Kurzum: wir handeln virusartig.
Als Nächstes überschreiten wir gemeinsam mit Le Guin „Schwellen“ (Am Anfang war der Beutel, Seite 42): „Beim Nachsinnen über … Utopie fand ich Victor Turners Unterscheidung zwischen Struktur und Komunitas hilfreich: in seiner Begrifflichkeit ist gesellschaftliche struktur kognitiv, während Komunitas existenziell ist. Struktur erzeugt ein Modell, Komunitas ein Potenzial. Struktur erzeugt Ordnung, Komunitas Neuordnung. Struktur drückt sich in juristischen und politischen Institutionen aus, Komunitas in Kunst und Religion. Komunitas dringt in die Liminalität durch die Lücken der Struktur, in der Marginalität an den Rändern der Struktur und in der Inferiorität von unterhalb der Struktur ein. Und sie geht beinah überall auf der Welt als sakral oder heilig, vielleicht weil sie Normen, die strukturierte und institutionalisierte Beziehungen leiten, überschreitet oder aufhebt und von der Erfahrung beispielloser Kraft begleitet ist.
Wenn der Versuch, eine Struktur zur Gewährleistung von Komunitas zu schaffen, ein unlösbares Dilemma zur Folge hat, wäre es dann nicht angebracht, das Maschinenmodell über Bord zu werfen, und stattdessen auf organische Ansätze zu setzen, bei denen Strukturen sich aus Prozessen herausbilden. Das hieße jedoch, noch weiter zu gehen als der Anarchismus und zu riskieren, nicht nur rückwärtsgewandt, politisch naiv, technikfeindlich und anti-rationalistisch gescholten zu werden, sondern tatsächlich all das zu sein. … Welche Art von Utopie kann aus diesen Randbemerkungen, Verneinungen und Andeutungen entstehen? Wer würde sie überhaupt als Utopie erkennen? Sie wird wahrscheinlich nicht so aussehen, wie sie aussehen soll.“
Turner fand heraus, dass gerade in unsicheren Zeiten der Veränderung und des Wandels Symbole und Rituale angewendet werden, um Sicherheit angesichts der Ungewissheit herzustellen. … Laut Turner entsteht in einem Ritual unter Teilnehmern, die gemeinsam die Liminalität durchlaufen … , eine Gemeinschaftlichkeit, die mit Hilfe der Symbole und des tänzerischen und musikalischen Ablaufs eine gemeinsame, neue Identität herstellen kann. Diese Identität kann verfestigt und betont werden, indem sich das Ritual als Ereignis vom Alltag abhebt und eine Gegenwelt zum Alltag erzeugt.
Diese besondere Gemeinschaftlichkeit kennzeichne laut Turner insbesondere, dass innerhalb einer Komunitas keine klaren sozialen Strukturen bestehen, sondern wenigstens für die Dauer des Rituals „alle gleich sind“. Turner zeigt das insbesondere an einem Ritual zur Einsetzung eines Häuptlings, in dem die sonst allgemein üblichen hierarchischen Regeln aufgehoben sind. Hier haben Akteure, die innerhalb der Liminalität und damit außerhalb der Gesellschaft stehen, die Macht, Dinge zu tun oder zu sagen, die innerhalb der Gesellschaft nicht erlaubt wären.
Eine weitere Beobachtung ist, dass Menschen, die gemeinsam eine Liminalität durchlaufen haben, einander häufig verbunden bleiben. Wenn die in der Liminalität durchlaufene Veränderung besonders tief ist, kann diese Verbundenheit durchaus ein Leben lang andauern.
IV. Brinkmann
Gemeinsamer Nenner aller Autoren ist, dass die derzeit bestehende gesellschaftliche Struktur, unsere „Welt“, wahrscheinlich in Kürze untergeht. Aber dass es nicht weiter schlimm sei, denn – um es einmal im Stil von Rolf Dieter Brinkmann zu sagen – die Bäume machen weiter, die Vögel machen weiter, die Füchse und Rehe und Raben und Ratten machen weiter, die Eidechsen machen weiter, die Heuschrecken und Grillen und Zikaden strigulieren weiter fröhlich vor sich hin, die Würmer in der Erde machen weiter, die Mikroben machen weiter. Nach dem Ende der Menschheit, wenn erst einmal alle Atomkraftwerke ausgeglüht sind, werden sich die Meere wieder erholen und neue blühende Formen von Leben hervorbringen. Die Luft wird frisch, wahrscheinlich ist ihre chemische Zusammensetzung ein wenig anders als derzeit. Aber aus den Science-Fiction-Dystopien haben wir gelernt, dass andere Bedingungen nur andere Herausforderungen bedeuten und nicht das Ende von allem („World´s End“, auch ein Brinkmann-Titel).
Nun zu Deiner zweiten Frage, lieber P.! Auf dem Blog passiert in letzter Zeit vergleichsweise wenig, weil alle Ausdrucksformen ihre Zeit haben – und in die nächste Phase der Entwicklung nicht mit gleichem Gewinn überführt werden können. Der Blog ist in einer ganz konkreten Situation des politischen Umbruchs entstanden, als das erste Mal die Verwandlung unserer liberalen Gesellschaft in eine erbärmliche Form von autoritärer Schwindel-Kultur unübersehbar geworden war. Der Augenfehler vieler Mitstreiter aus den zurückliegenden Jahren, die dies angeblich nicht erkennen konnten und bis heute schlecht können, stellte die besondere Färbung der Auseinandersetzung mit diesem Wandel dar.
Waren 2020–2024 noch Relativierungen oder abweichende Meinung zu Tagesverlautbarungen gefragt, weil so unglaublich viel leicht enthüllbarer Unsinn in Form staatlich verordneter Wahrheit verbreitet wurde und verbissen eingepaukt wurde – eben genau das, was – wie Ulf Poschardt einmal so schön gesagt hat – „unsere neue moralische Jakobinerelite über das Land gestreut“ hat, so sind wir seit 2025 mit einer viel komplexeren Verwerfung konfrontiert, zu deren Aufklärung – wie Berardi richtig sagt – konventionelle Theoriebildung nichts beitragen kann. Allein schon deswegen, weil die jetzt herrschende Millardärsklasse und ihre Kanzlergehilfen mit der Macht des Faktischen operieren und das Volk damit überrollen, beziehungsweise als Geschmeiß betrachten, das ruhigen Gewissens zertreten werden kann.
V. Asimov
Nach dem Ausklingen der akuten Phase der Repressionen im Zusammenhang mit COVID haben wir daher lange Debatten mit unseren Freunden vom Unsichtbaren Komitee darüber geführt, wie engmaschig der nun anhebende Prozess der Umsetzung der während COVID eingeleiteten Restriktionen und sozialen Demontagen mit Texten begleitet werden sollte.
Wir waren uns einig, dass eine wöchentliche oder gar tägliche Analyse nicht nur nicht zu leisten, sondern sogar kontraproduktiv sei. Durch die notwendig in ihr vorkommenden Überlappungen und Wiederholungen würde sich der Effekt jedes Textes abschleifen.
Gleichzeitig wussten wir, dass Blogs eine sehr gute Möglichkeit einer globalen Vernetzung und Verständigung bieten, befinden wir uns doch alle in einer Art „molekularem Sibirien“: verstoßen aus der bisherigen Lebensumgebung, führen die über die Welt verstreut vereinzelt lebenden Verbannten die raffiniertesten Gespräche miteinander und formieren sich zur Avantgarde der nächsten Stufe der Entwicklung.
Zu diesen Hindernissen, den Blog regelmässig zu füllen mit neuen Ideen, kommen zwei ganz konkrete beinahe-Todeserfahrungen. Ein schwerer Autounfall jährt sich im Juli 2025 zum 10. Mal. Er bleibt mir vor allem deswegen täglich präsent und unvergesslich, weil sich die Versicherung des Unfallgegners weigert, mich für meine erlittenen Schäden zu entschädigen und die Sache – sicher nicht aus Gründen der Marginalität des Ereignisses und vor allem wegen zahlloser Rechtsfehler auf der Gegenseite und insbesondere bei den Richtern der beiden niedrigeren Instanzen – inzwischen beim Bundesgerichtshof liegt. Das selbstgefällige und gesetzesferne Auftreten der Richter jenes popeligen Provinz- Landes- und nicht weniger piefigen Oberlandesgerichtes hat mein Vertrauen in die deutsche Rechtsprechung als uneinnehmbare Bastion der Demokratie auch nicht gerade gefestigt. Überall, das war zu spüren, herrscht Willkür und Fraternisierung mit dem Geld und denen, die es ohnehin haben.
Die zweite Todeserfahrung ging mit einer Operation einher, deren Umfang und Ablauf immerhin ausreichte, sich ernsthaft mit der Frage des Ablebens auseinanderzusetzen. Der im Zusammenhang mit der Unfallbegutachtung eingesetzte Psychologe, der den Grad meiner Traumatisierung zu beurteilen hat, sprach davon, dass solche biographischen Einschnitte dazu führen, dass der Betroffene eine „kurze Zündschnur“ bekommt und fürderhin radikaler als sinnvoll oder nötig auf Ereignisse und Verhaltensweisen seiner Umgebung reagiert. Einfach weil er keine Zeit mehr zu verplempern hat und sich „für den Rest“ auf Wesentliches konzentriert.
Nun ist es so, dass es sich dabei nicht um eine frei gewählte Verhaltensweise handelt, sondern um eine unumgängliche Folge der Traumatisierung durch Unfall und Krankheit. Ich suche mir zudem auch gar nicht bewusst aus, was „wesentlich“ ist und auf was ich verzichten kann. Wie immer im Leben, „ergeben“ sich die Sachen.
So hätte ich gern meinen nächsten Roman, der schon zur Hälfte geschrieben war vor der Operation, zu Ende gebracht. Zumal der Lektor meiner ersten beiden Romane gerade in der idealen Position eines Herausgebers bei einem sehr guten Verlag angelangt ist. Gerne hätte ich auch mal Teile meines Wohnraumes fertig ausgebaut, aber die pekuniären Verpflichtungen nach dem langen, zweifachen Arbeitsausfall und einem vollständigen beruflichen Umsatteln mit den entsprechenden Vagheiten am Anfang schienen mir das zu verunmöglichen.
Das mehr oder weniger erfolgreiche Krisen-Managment in solchen Engpass-Situationen besteht allein darin, sich selbst ausreichend häufig zu hinterfragen und das eigene Verhalten aus größerer Höhe zu betrachten, um zu verhindern, sich von den aufschießenden Emotionen überschwemmen zu lassen.
Wenn ich das jüngste Zeitgeschehen nun durch die Brille meiner persönlichen Erfahrung betrachte, scheint es mir nahe zu liegen, dass bei uns allen – durch den beschriebenen Prozeß der Anwendung struktureller und konkreter Gewalt bis hin zu einem weithin begrüssten Genozid an Andersdenkenden und -lebenden – ein fataler Prozeß der Massen-Traumatisierung stattgefunden hat und wir es infolgedessen mit einer kurzen Zündschnur auf kollektiver Ebene zu tun haben. Das erklärt schlüssig, warum nicht mehr erfolgreich miteinander gesprochen, Probleme nicht mehr mit den eingeführten Verkehrsformen von Debatte und Diplomatie aus der Welt geschaffen werden können. Wir schreien und bezichtigen: aus Verstörung.
So nimmt es auch nicht Wunder, dass die elektrisierende Wirkung, die vom Verfassen spannender Texte unter anderen Umständen verlässlich ausgeht, in den Phasen, in denen ich mich von den Nebenwirkungen der Traumatisierung überwältigen lasse, stets in Vergessenheit gerät. Ich rudere, falle aus dem Boot, schwimme hektisch und kämpfe gegen das Ertrinken. Keine gute Voraussetzung für klare Gedanken. Ich muss erst wieder an Land gelangen.
Das berufliche Umsatteln gibt mir tatsächlich gegenüber dem fast ertragslosen 24/7/365-Selbstausbeutungs-Job zuvor eher mehr Freiheit und Zeit. Aber die Psyche willigt nicht ein, sie sinnvoll zu nutzen. Es fühlt sich ein wenig so an, wie Isaac Asimov es in seinem Meisterwerk „Lunatico“, an dem er fünfzehn Jahre geschrieben hat, gleich in der ersten Zeile ausdrückt: „Sinnlos, sagte Lamont heftig. Ich habe überhaupt nichts erreicht.“
VI. … und Ich?
Die Länge meiner Zündschnur nimmt nun seit dem Durchbruch autoritärer Prinzipien auf allen Ebenen und insbesondere im Alltag eher noch ab. Täglich habe ich in meinem neuen Job mehrfach Publikumsverkehr. Die schon länger explosive Stimmung hier im Osten des Landes spitzt sich immer mehr zu. Das Ende vorstellbarer Verständigung ist erreicht. Offenheit, Geradlinigkeit, Ehrlichkeit und Zu-seinem-Wort-stehen haben keinerlei Bedeutung mehr. Wie auch – bei so viel gewollter Verunsicherung. Wo das noch hinführen wird, ist nicht mehr rätselhaft, sondern „auf der Strasse“ bereits klar sichtbar.
Es fällt daher zunächst einmal schwer, sich eine künftige Entwicklung, einen grundlegenden Wandel statt durch Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse, durch militärische Organisation des Aufstandes und Machtübernahme eher durch Austritt und Abgeschiedenheit, Nichtteilnahme und Verweigerung, Auswanderung und Entsagung vorzustellen. Doch die gescheiterten revolutionären Projekte der vergangenen zweihundert Jahre zeigen, dass es zwar möglich ist, für eine kurze Zeit Linderung allzu bedrückender Verhältnisse und eine Ahnung von Gerechtigkeit zu schaffen, dass es jedoch auf Dauer wenig Alternativen dazu gibt, als diese zunächst ein wenig eskapistisch klingenden Begriffe mit Leben und Freude zu füllen.
Das ist die Arbeit, die vor uns liegt.